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Zu Ende gedacht

Zu Ende gedacht

Die Selbstverleugnung und das Versagen der deutschen Intellektuellen hat eine Vorgeschichte.

Es war einmal ― vor Kurzem noch

Im Jahr 1981 war es, als der Soziologe Oskar Negt mit dem Filmemacher und Essayisten Alexander Kluge ein Mammutwerk unter dem Titel „Geschichte und Eigensinn“ veröffentlichte, das in Farbe und Format an die berühmten blauen Marx-Engels-Bände erinnert. Das Buch enthielt eine Botschaft, vorgebracht im Pathos einer frei schwebenden Intelligenz: Die Autoren wollten zu neuen Ufern der Zeitdiagnose aufbrechen, nach Antworten auf die Frage suchen, wie objektive und subjektive Kräfte, im wörtlichen Sinne eben „Geschichte und Eigensinn“ ― ineinanderwirken.

Auffallend ein Foto der beiden Autoren auf der inneren Kladdenseite des Buches: Wir sehen zwei Geistesarbeiter, die sich an einem größeren Tisch gegenüber sitzen ― ein Duo, das auf fast rührende Weise die Anmutung einer konzentrierten Arbeitsgruppe in uns wachruft: auf der einen Seite der gewerkschaftlich orientierte Soziologe Oskar Negt, auf der anderen Seite der in Assoziationen mäandernde Alexander Kluge. Leicht auszumalen, wie der Arbeitsprozess der beiden Intellektuellen wohl ablief, wie vermutlich vereinzelte Missverständnisse im Gespräch Pausen entstehen ließen, aus denen sich beide dann jedoch kraft furioser Volten und immer wohlwollend eingestellt gegenüber den Gedanken des anderen, herauswanden. So entstand ein Mosaik kreativen freien Denkens, das heute in Folge verhärteter Diskurstabus kaum vorstellbar wäre.

Negt und Kluge repräsentierten bei allen Unterschieden einen Typ von Intellektuellen mit einer neomarxistisch kritischen Sicht, in der alles verhandelt wurde, selbst das Abwegige, oft Übersehene: Man übte sich in eigenwilligen Dekonstruktionen geschichtlicher Verläufe, lieferte Betrachtungen zur aktiven Einflussnahme der menschlichen Haut auf das Liebesleben der Menschen, streifte die mediterrane Philosophie eines Antonio Gramsci und immer wieder folgten Huldigungen an Richard Wagner, wobei man dessen Antisemitismus keinesfalls unter den Teppich kehrte.

Mit diesem spielerisch entwickelten Dialog setzen sich die beiden schon deutlich vom Typ des Intellektuellen in der heroischen Spur Émile Zolas ab. Dieser galt ja mit seiner Tat als eher einsamer Kämpfer in der Wüste, während Negt und Kluge einen lockeren Arbeitsstil pflegen, gut abgefedert im Zeitgeist, mit dessen damaliger Vorliebe, alle Phänomene des Lebens in Modelle kommunikativen Handelns oder „wilden Denkens“ einzufügen. ― Nun ja, es waren eben die Achtziger: Das „Anything Goes“ stand in voller Blüte, schuf eine buntscheckige „Orchideenphilosophie“, die sich elegant zu inszenieren wusste. Da ging vieles zusammen, was heute völlig undenkbar wäre.

Der Philosoph Georg Lukács hat einmal ein solches intellektuelles Erkenntnismuster in leichtem Spott folgendermaßen charakterisiert: Man geht als Großdenker/in oftmals von einer Einzelerfahrung aus, verortet sie in lässiger Geste in einer schon angedachten Theorie, um von dort aus zu einem lakonischen Urteil zu gelangen. Und fertig ist das Haus vom Nikolaus!

Aber gut, dies sei den beiden Denkern zugestanden: Es war eben, wenn man so will, immer schon „intellektuellenlike“, Komplexität in Einfachheit zu überführen. Was aber in Kenntnis der gegenwärtigen Diskursverweigerung besonders schmerzlich anmutet: Negt und Kluge hatten im Bewusstsein, als Team zu denken, zwar kaum noch etwas gemein mit traditionellen Intellektuellen wie Günter Grass und Martin Walser, aber sie scheinen geradezu um Lichtjahre entfernt vom schweigenden Heer der Intellektuellen heute. Um deren Geschichte und Geltung aber geht es. Was ist mit ihnen los?

Woraus speist sich das Profil des deutschen Intellektuellen heute ― eine erste Bestandsaufnahme

Der Publizist Richard Herzinger stellte vor mehr als 20 Jahren zur Typologie des Intellektuellen recht ernüchtert fest, es ließe sich kaum noch von einer herausgehobenen Bedeutung des Intellektuellen sprechen, der in einer großen Geste eine ganze kritische Öffentlichkeit ersetzen muss, sondern es seien lediglich widerstreitende Ansichten unter Intellektuellen übrig geblieben, die ebenso diffus ausfielen, wie es das Meinungsspektrum in der ganzen Gesellschaft vorgäbe.

Herzinger fügt an, dass in dieser Zersplitterung und Entwertung des klassischen Profils eine tiefe Kränkung für Intellektuelle läge, da sie in diesem medialen Umfeld der Einzigartigkeit und auch der moralischen Weihen und Gratifikationen der Gesellschaft verlustig gegangen seien und diese Schmach kaum verschmerzen könnten.

Zu dieser Entzauberung des Intellektuellen passt womöglich auch die Einschätzung des Essayisten Michael Rutschky, der im Laufe seines Lebens einen Wandel im Wunschbild des Intellektuellen feststellte. Konkret: Als er, Rutschky, studierte, habe der junge Intellektuelle eigentlich Professor werden wollen. Heute strebe der junge Mensch, wenn er zur Intelligenzia gehören möchte, in die Medien.

Ja, um hier mit einem Zitat von Goethe einmal fremdzugehen: „An den Medien hängt, zu den Medien strebt doch alles“ ― angefangen vom Studenten, der nicht genau weiß, was er will, und deshalb die Medien ins Auge fasst, bis hin zum fleißigen Magisterabsolventen, der das auf Aktualität getrimmte Milieu in den Redaktionsbüros dem Muff der Nach-68er-Zeit vorzieht ― ob als Angestellter in den öffentlich rechtlichen Anstalten oder als Freelancer an der Online-Meinungsfront.

So mag es auch der Publizist Lutz Hachmeister gesehen haben, einige Zeit später, als er im Überschwang der neu sich ankündigenden Entwicklungen den Medienintellektuellen sehr positiv vom klassischen Intellektuellen abhob. Während Letzterer von Hachmeister als Generalist längst überfälliger ideologischer Schlachten ausgemacht wurde, attestierte er dem Medienintellektuellen geradezu ein attraktives Profil: „gewieft, geistesgegenwärtig und flexibel“ müsse er sein ― gewissermaßen ein Surfer auf den Wellen des Angesagten.

Diese euphorischen Einschätzungen: Haben sie sich bestätigt? Am auffälligsten liest man aus Hachmeisters satter Rhetorik noch die Genugtuung über die Entmystifizierung des alten missionarisch wirkenden Typs heraus. Dessen Zeit sei vorbei, wie wohl auch der Wohlmeinende nicht in Abrede stellen könnte. Das hieße dann etwa Schluss mit Fragen wie: Was sagt ein Wolf Biermann, ein Günter Grass oder ein Martin Walser zu bestimmten Zeitphänomenen?

In einer aufgepeppten Gesellschaft mit hohem Aufmerksamkeitspegel interessiert nicht weiter, wenn sich eine Stimme in behäbigem Ton der Altvorderen meldet und über das Ganze der Moderne schwadroniert.

Da schien sich mit Lutz Hachmeister schon ein anderes dem Anschein nach demokratischeres Modell von Intellektualität anzukündigen, das von einer viral ausufernden Schwarmintelligenz.

Allerdings wäre der woke Diagnostiker Hachmeister 20 Jahre nach seiner Prognose selbst ernüchtert, wenn er sich die gegenwärtige Situation vor Augen führt, in der Freelancer und angestellte Medienintellektuelle ihr tägliches, meist tristes Dasein fristen müssen: Die coole Surfer-Attitüde, die Hachmeister an eine gute Zukunft für die Spezies glauben lässt, können sich inzwischen nur noch wenige in einem Universum der Abhängigkeiten leisten, inmitten all der Instanzen politischer Einflussnahme und unaufhaltbarer Monopolisierungen, die Diversität und Denkreichtum kaum zulassen.

Surfen auf dieser Welle tun da nur wenige und flexibel ist ein anderes Wort für das Einknicken vor der Macht des Faktischen. Und vor der Macht ohnehin. Der Geist der Zeit ist inzwischen mutiert in einen launigen Zeitgeist, der den Intellektuellen als ein bloßes Schattenwesen zurücklässt, einen fiebernden Fahrer auf der Überholspur, heimgesucht von der Angst, selbst überholt zu werden, immer weniger in jene Komfortzone sich versetzt fühlend, in der nach klassischem Muster Überzeugung und unbeugsame Haltung die Ideale der Aufklärung umsetzen können.

Wer uns indes da heute als intellektueller Phänotyp der Stunde real begegnet, wäre kaum noch satisfaktionsfähig für all die altvorderen Intellektuellen à la Zola oder Grass. Wir begegnen flinken Rackern des Geistes, mit aufschäumendem Moralismus, die sichdurch das Meer der medial erzeugten Aufmerksamkeitsökonomie durchwurschteln. Die Antennen sind ausgefahren für das, was gerade ansteht, was gewünscht, ja systemisch gefordert wird.

Es gilt ja nicht mehr, dass alles geht wie in den „seligen“ Siebzigern und Achtzigern, es geht nur noch um das, was so und nicht anders gehen soll. Der Intellektuelle dieses hektisch agierenden Zuschnitts lässt wenig Raum für freie Entfaltung.

Man muss hier nicht das gegenwärtige Szenario namentlich ins Spiel bringen, um eine tiefe Ahnung von der darin geübten Entkernung des Intellektuellen in den vergangenen drei Jahren zu bekommen: Rund um Corona, Krieg und Klimakrise hat sich ein Krebsgeschwür aus starren Haltungen und Maßregelungen gebildet, die den Intellektuellen, diese Restfigur des geistigen Lebens, noch weit hinter die einstig ihm vorgeworfene metaphysische Schwurbelei, ja selbst hinter den gesunden Menschenverstand zurückfallen lassen. Es bleiben für ihn lediglich Handlangerdienste für übergeordnete Instanzen und Widersprüche, in die er sich unheilvoll verstrickt.

Der deutsche Intellektuelle im Widerstreit zwischen Kultur und Zivilisation

Von links und rechts ist bisher nicht die Rede. Muss auch nicht. Die Dramaturgie verläuft inzwischen jenseits dieser Grenzziehungen.

Wer sich ein wenig in der deutschen Kulturgeschichte auskennt, weiß, wie viel Sprengstoff die Begriffe Zivilisation und Kultur immer schon in sich bargen. Sie galten hier seit jeher als streng voneinander abgegrenzte Bereiche. Bei Kurzschluss drohten hohe Entladungen.

Wer im Land der Dichter und Denker für Kultur eintrat, misstraute fast zwangsläufig der Zivilisation. Das führte zu jenem Gralshütertum, für das sich einst auch Thomas Mann nicht zu schade war, als er in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ dem Titel „Intellektueller“ polemisch das in Deutschland anrüchige Attribut „Zivilisationsliterat“ anhängte.

Der Autor des „Zauberberg“ wollte mit dieser Invektive vornehmlich seinen Bruder Heinrich Mann treffen, der sich damals zu Beginn des Ersten Weltkrieges ostentativ gegen dräuende Schicksalsmächte, wie sein Bruder sie liebte, und für Frieden und die internationale Solidarität aller Intellektuellen eingesetzt hatte.

Der Streit zwischen den Gebrüdern Mann wirkt angesichts der Debatten heute geradezu exemplarisch: Intellektuelle Auseinandersetzungen um Kultur und Zivilisation werden hierzulande mit einer Heftigkeit geführt, die auf eher familiäre Verwerfungen schließen lassen. Im Kontrahenten wird kein Fremder, vielmehr der verfeindete Bruder ausgemacht ― psychologisch weitergedacht der abgespaltene Teil des eigenen Ichs.

Plädoyers für kulturelle Ursprünglichkeit geraten da schnell zu raunenden Bekenntnissen und hoch passionierten Herzensangelegenheiten; aber auch die Parteinahme für die Segnungen einer zivilisatorisch fortschreitenden Moderne fallen hierzulande viel zu schrill aus, um eine innere Dynamik verirrter Gefühle verbergen zu können. In dieser Auseinandersetzung geht es sehr schnell um alles, um jene Wahrheit, die man dem intellektuellen Gegenspieler abspricht, ja für die man ihn zu denunzieren bereit ist.

Walther Benjamins Zugriff auf den Status des Intellektuellen

Eine Ahnung von diesen sehr oft in Deutschland zu beobachtenden Zwistigkeiten zwischen Intellektuellen vermittelte uns der Philosoph und Essayist Walter Benjamin.

Dessen Gespür für kollektivpsychologische Prozesse und abrupte Mentalitätswechsel in der Geschichte schließen bei ihm immer auch die Forderung nach einer Betrachtung der eigenen Position als Intellektueller ein. Ganz entgegen üblichen Gepflogenheiten beurteilt Benjamin die Lage des Intellektuellen nicht aus der Position des Richters, sondern er stellt sich schlicht die Frage, was einen Menschen ― in Sonderheit ihn selbst ― legitimiert, als geistiger Impulsgeber, vielleicht auch als Mahner in die Zeitläufte einzuwirken. Seine These:

Der Intellektuelle erwirbt sich dieses Recht zum Vordenker nur, wenn er zunächst seine eigene Stellung in der Gesellschaft reflektiert: Inwieweit ist er in Abhängigkeiten, in ökonomische und soziale Handlungsmuster verstrickt oder als Vertreter seiner Klasse nur beschränkt tauglich, Gesellschaftskritik zu üben.

Es dürfte kein Zufall sein, dass Benjamin selbst sich eher als Privatgelehrter auf dem freien Markt ansiedelte, sich dort durchschlagen musste wie eine Vielzahl anderer Intellektueller auch ― zusammen meist ein Heer von einzelgängerischen Außenseitern, wie sie das 19. und frühe 20. Jahrhundert uns schenkte.

Es waren denn auch Denker wie Arthur Schopenhauer, Søren Kierkegaard, Karl Marx und Friedrich Nietzsche, die die Rolle des Intellektuellen damals, ungewollt vielleicht und voller Bitterkeit gegen universitär angestellte Professoren unter muffigen Talaren, ausfüllten. Diese Outsider bildeten allerdings äußerst prekäre und oftmals fragile Biografien aus, hinter denen sich gesellschaftliche Zwangsverhältnisse und wohl auch eine Art deutscher Pathologie verbarg.

Man mag in diesem Zusammenhang vor allem an die sogenannte Melancholietheorie denken, die Benjamin entwickelt hat. Sie sollte Aufschluss darüber geben, wie es um die Seelenlage des Intellektuellen bestellt sei. Dessen Krankheit rührt Benjamin zufolge daher, dass er von der Übermacht der Geschichte und einer systemisch eingeschränkten Öffentlichkeit erdrückt in eine Art Lähmung falle und aus dieser Position die Welt um sich herum zum bloßen Bild erstarren lasse. In diese wenig schmeichelhafte Diagnose war laut Benjamin indes der Gedanke der Erlösung angelegt.

Der Intellektuelle sehnt sich demzufolge danach, der Schwermut zu entgehen, er möchte aus sich selbst heraustreten, mithin sich absetzen von anderen Intellektuellen, die ihm als Spiegel seiner eigenen Unzulänglichkeit dienen. In dem Wunsch, so normal und gesund zu erscheinen wie andere Menschen ― eine sehr deutsche Suggestion ― verfängt sich der Intellektuelle allerdings in ein Pathos, das peinlich anmutet, und seine positive Absicht, in der Gesellschaft anerkannt zu werden und sich wie ein Fisch im Wasser zu fühlen, massiv konterkariert. Der Intellektuelle wird nie ein Fisch im Wasser sein, aber er möchte es gleichwohl.

Sagt uns diese Vorgeschichte womöglich etwas aus über das Ausmaß des Zivilisationsbruchs vor drei Jahren, der besonders spürbar am Verhalten der Intellektuellen abzulesen war?

Deren auffälliges Schweigen könnte diesen Überlegungen zufolge daher rühren, dass die durch Corona verursachte Ausnahmesituation viele Intellektuelle in die Arme staatlicher Stellen hat treiben lassen, von wo sie sich in höhnischer Geste gegen die Verschwörungstheoretiker und Schwurbler wandten, diese gar als infantile und lebensunfähige Intellektuellen denunzierten.

Peter Sloterdijk bestätigte mehrmals diesen pathologischen Befund in aller Deutlichkeit, als er sich in verblüffender Naivität für die staatliche Exekutive mit starker Hand gegen die Coronamaßnahmenkritiker richtete. Auch hier zeigt sich das ganze Ausmaß der von Walter Benjamin aufgewiesenen Pathologie: Man will nicht sein, was man ist, und sein, was man nicht ist. Das Schlimme daran: Diese Zerrissenheit ― ein Erbe des alten Intellektuellen ― erzeugt in ihnen nicht einmal mehr ein Leiden an sich selbst und an der Gesellschaft: Sie führt vielmehr zu einem schier unauslöschbaren Trotz und einem blinden Weitermachen. Ist der Intellektuelle damit am Ende?


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